Befreien, Kontern, Wegrennen - Selbstverteidigung mit Krav Maga

Es ist inzwischen gut 20 Jahre her, dass ich morgens auf dem Weg durch den Park zur Schule ein komisches Bauchgefühl hatte. Ich hatte erst zur dritten Stunde und der Park, durch den ich musste, war menschenleer. Trotzdem hatte ich das Gefühl, nicht allein zu sein. Wie aus dem Nichts umklammerte plötzlich jemand meine Arme und zog mich zurück. Bis heute erinnere ich mich vor allem an eins: Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich angefangen habe, zu schreien. Ich konnte einfach nicht in der Öffentlichkeit rumzubrüllen, selbst in dieser bedrohlichen Situation. Vermutlich waren es nur wenige Sekunden Schockstarre - mir kamen sie damals vor, wie eine Ewigkeit. Dann passierte alles gleichzeitig: Zappeln, Treten, laut Schreien. Irgendwann ließ der Typ los und haute ab, ich brüllte ihm hinterher. Und schwor mir, zu lernen, wie ich mich verteidigen kann.

Inzwischen trainiere ich seit vielen Jahren Kampfsport und das Rumbrüllen in der Öffentlichkeit fällt mir nicht mehr so schwer. Die koreanische Kampfkunst Taekwondo mache ich aber vor allem, weil sie mir aus ästhetischen und philosophischen Gründen gefällt. Ich wollte aber auch mal in einen Kampfsport reinschnuppern, in dem es nur um eins geht: Sich so schnell und effektiv wie möglich aus einer bedrohlichen Situation zu befreien. Und am spannendsten finde ich dafür Krav Maga. Das ist hebräisch und bedeutet "Kontaktkampf/Nahkampf." Ursprünglich wurde Krav Maga in zionistischen Untergrundorganisationen unterricht, später in der israelischen Armee. Inzwischen lernen es Militärangehörige und Polizisten auf der ganzen Welt. Und in einer leicht abgewandelten Form wird es inzwischen auch für Privatpersonen angeboten. Zur Selbstverteidigung, zur Deeskalation und auch als ziemlich effektives Fitnesstraining, wie ich euch nach 90 schweißtreibenden Minuten versichern kann.

Flüchten ist besser als Kämpfen

Ich bin zu Gast im Krav Maga Institut in Köln. Mein Trainer Kevin empfängt mich direkt mit einem wichtigen Accessoire für Krav Maga: Einem Tiefschutz. Schnell ist klar: Hier geht es heute richtig zur Sache. Das Publikum ist sehr gemischt: Männer und Frauen, Jung und Alt. Was ich hier zum Glück nicht sehe: Menschen, die mir unangenehm sind oder denen ich ungern im Dunkeln begegnen würde. Das ist auch eins der Grundprinzipien des Krav Maga: Wir trainieren nicht die, vor denen wir uns schützen wollen. Schlägertypen haben hier nichts verloren. Kevin und die anderen Trainer lassen uns Paare bilden, damit wir uns aufwärmen. Mein Trainingspartner läuft vor mir her und trägt ein großes Schlagpolster auf dem Rücken. Ich renne hinterher und boxe auf das Polster ein. Zwischendurch gibt er richtig Gas und ich muss sprinten, um ihn zu erwischen. Dann kommen Liegestütze und Bauchübungen. Nach 20 Minuten läuft meine Pumpe auf Hochtouren und das Shirt ist durchgeschwitzt.

 

Dann erklärt uns Kevin, nach welchem Prinzip Krav Maga aufgebaut ist: Flüchten - Kick-Distanz - Schlagdistanz - Infight. Bedeutet übersetzt: Erstmal präventiv handeln, damit es gar nicht erst zu einem Konflikt oder Angriff kommt. Sollte es doch passieren, gilt: Wenn ich die Möglichkeit habe, abzuhauen, haue ich ab. Und das hat nichts mit Feigheit zu tun, sondern mit Vernunft. Erst wenn ich keine andere Möglichkeit mehr habe, verteidige ich mich. Dann aber auch mit allem was ich habe.

Wir starten mit der ersten Übung: Mein Trainingspartner setzt von hinten einen Würgegriff an meinem Hals an. Ich fasse seine Hände, reiße sie mit einem Ruck nach unten. Dabei gleite ich ein wenig zur Seite, schlage dem Angreifer zwischen die Beine, ziehe von dort aus sofort den Ellbogen nach oben in sein Gesicht. Ein Sprung zur Seite, ein Tritt gegen das Knie. Und dann: Abhauen! Allerdings nicht einfach kopflos wegrennen. Sondern absichern, ob noch weitere potenzielle Angreifer in der Nähe sind. Wieder und wieder üben wir den Angriff - und meine Trainingspartner sind nicht zimperlich. Sie halten mich richtig fest und ich muss alle Kraft und Technik aufbringen, um mich zu befreien. Aber genau so wäre es ja auch im realen Leben.

Wichtigste Regel im Krav Maga: Never Freeze!

Nächster Step: Wir schließen die Augen, um nicht zu wissen, wann und von wo der Angriff kommt. Als ich die Hände an meinem Hals spüre, stocke ich kurz, mache es dann nicht ganz korrekt und breche mittendrin ab. "Nicht aufgeben!" ruft Kevin. Und erklärt mir: "Never freeze!" Es ist egal, ob ich zu 100 Prozent die Technik anwende, die ich im letzten Training gelernt habe. Denn wenn ich auf der Straße angegriffen werde, gibt es keine zweite Chance. Und auch nicht die Möglichkeit, darum zu bitten, doch netterweise mit der linken Hand angegriffen zu werden, weil ich nur diese Seite gelernt habe. Werde ich angegriffen, gilt: Handeln. Kämpfen. Abhauen. Überleben. Aufgeben ist niemals eine Option. Kein Erstarren wie damals, vor 20 Jahren im Park. Sondern reagieren!

Krav Maga passt sich dem Menschen an

Krav Maga sieht sich nicht als Kampfsport, sondern als Selbstverteidigungssytem. Deswegen wird auch nicht nur im Trainingsraum auf weichen Matten trainiert. Sondern auch im Bus, im Wasser oder im Wald. Eben an Orten, an denen wir in gefährliche Situationen geraten könnten. Und anders als in den klassischen Kampfkünsten, werden im Krav Maga keine komplexen Bewegungsabläufe einstudiert, wie zum Beispiel der Formenlauf im Karate, Taekwondo oder Kung Fu. Im Gegenteil dazu geht es im Krav Maga nur um Effektivität und Anwendbarkeit und darum, die Techniken möglichst schnell zu elernen. Ein wichtiger Gedanke hierbei: Das System passt sich dem Menschen an und nicht der Mensch dem System. Damit soll Krav Maga für jeden geeignet sein, egal wie gelenkig oder sportlich er ist. Kann jemand nicht hoch Treten, tritt er dem Angreifer eben gegen das Knie. Ist im Zweifel ohnehin am effektivsten. Wichtig im Krav Maga ist auch, dass die Techniken nicht spektakulär, sondern alltagstauglich sein sollen. Dementsprechend stellen wir eine typische Situation nach: Mit dem Gesicht zur Wand stellen wir uns auf - so als wäre dort eine Haustür, die wir spät abends aufschließen wollen. Der Angreifer kommt von hinten und drückt uns gegen die imaginäre Tür. Wir reißen die Arme vor das Gesicht, damit es nicht an die Wand knallt. Dann drehen wir uns mit dem Schwung des Ellbogens nach hinten und verpassen dem Angreifer einen Stoß ins Gesicht. Ein schneller Tritt gegen das Knie und wieder: Abhauen und schauen, dass keine weiteren Angreifer in der Nähe sind.

Realistische Übungen zur Selbstverteidigung

Als die Technik soweit sitzt, starten wir mit einem sogenannten Stress Drill. Diese Drills sind ein wichtiger Bestandteil des Krav Maga Trainings, denn sie sollen Stresssituationen simulieren. Denn wird man mitten in der Nacht plötzlich angegriffen, ist man natürlich nicht so entspannt und gut vorbereitet, wie im Trainingsraum. Wir tun uns also wieder zu zweit zusammen, einer der beiden Partner steht mit dem Rücken an die Wand gelehnt und hält ein großes Schlagpolster in den Händen. Jetzt muss der Angreifer alles geben: Schläge und Kniestöße prasseln auf das Kissen ein. Kevin feuert mich an: "Weiter, los, schneller, schneller, schneller!" Ich boxe den letzten Rest Kraft aus mir raus und bin völlig außer Atem, als das Kommando kommt: "Angriff!" Mein Trainingspartner wirft das Polster weg, packt meinen Kopf und schiebt mich Richtung Wand. Ich habe kaum noch Kraft, reagiere aber so, wie ich es in der letzten Stunde gelernt habe: Kopf schützen, nach hinten drehen, Ellbogenstoß, Tritt zwischen die Beine und abhauen, ohne dabei die Umgebung aus dem Blick zu verlieren. Wenn man kaum noch Luft bekommt und völlig leer gepumpt ist, ist das wirklich Stress. Auch fällt es mir nicht leicht, wie eine Wilde auf das Schlagpolster einzudreschen. Vor allem dann, wenn ich denjenigen, der das Polster hält, gut kenne und mag. Aber vermutlich werden auf diese Weise auch Hemmungen abgebaut. Und als wir das Polster tauschen, ist es für mich auch völlig ok, die harten Schläge abzufangen. Es ist nur etwas schwer, wieder zu Atem zu kommen, wenn einem unaufhörlich in den Bauch geboxt wird. Aber auch das gibt einem ein Gefühl für eine realistische Situation: Ein echter Angreifer fragt schließlich auch nicht, ob man fit genug ist, sich zu wehren.

Lerneffekt schon in der ersten Stunde

Zum Abschluss der Stunde lässt Kevin uns noch Dehnübungen machen. Ich ziehen meien Körper in alle Richtungen und denke über den Stress Drill nach. Ich muss an Berichte über Schlägereien in der U-Bahn denken. Für mich ist es unvorstellbar, wie Menschen eine solche Gewalt gegenüber anderen Menschen ausüben können. Leider passiert es aber immer wieder. Am Besten lässt man es gar nicht erst zu solchen Situationen kommen. Wird man aber doch angegriffen, ist es sicher gut, wenn man eine Kampfsportart beherrscht. Denn in fast allen Systemen lernt man, Konflikten aus dem Weg zu gehen, Situationen zu deeskalieren, Selbstbewusst aufzutreten und sich im Fall der Fälle eben auch zu verteidigen. Krav Maga, so wie es im Krav Maga Institut Köln unterrichtet wird, ist dabei besonders effektiv. Ich hatte nur eine Trainingsstunde und habe trotzdem das Gefühl, etwas mitzunnehmen, mit dem ich mich schützen kann. Und mit ziemlicher Sicherheit war das nicht mein letztes Krav Maga Training.

Für wen?

Die Antwort ist einfach: Für jeden. Denn das ist eins der wichtigsten Grundprinzipien beim Krav Maga. Jeder soll hier lernen, wie er sich selbst am Besten verteidigen kann mit den Mitteln, die ihm körperlich und mental zur Verfügung stehen. Diese Mittel können sich natürlich entwickeln, je länger und intesiver man trainiert. Gerade als Frau sollte man sich nicht scheuen, ins Training zu gehen. Denn es ist wirklich ein gutes Gefühl, zu wissen, dass man sich auch gegen einen großen, starken, schweren Angreifer verteidigen kann.

Wie und wo?

Ich habe mich im Krav Maga Institut in Köln sehr wohl gefühlt. Nette und kompetente Trainer, die sich auf ihre Schüler einstellen und die bei Vorführungen zeigen, dass sie wirklich was drauf haben. Auch die Trainingspartner waren angenehm und nett: Ein ausgewogener Frauenanteil und keine Schlägertypen. Generell der Tipp für die Suche nach einer Kampfsport- oder Selbstverteidigungsschule: Unbedingt ein Probetraining machen. Man spürt schnell, ob einem die Traininer sympathisch sind und welcher Geist in der Schule herrscht.


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