Voguing - Woche 20

Voguing - It's all about attitude

Crystal Melody ist eine Naturgewalt. Die Tänzerin explodiert förmlich in der ersten Reihe vor mir. Ihre Arme bewegen sich in eleganten und wahnsinnig schnellen Bewegungen, gelenkig geht sie tief in Knie, schnellt wieder hoch, wirft sich in Pose, mit dem Kopf im Nacken. Da komme ich kaum mit. Ich soll eine acht in die Luft malen mit meiner rechten Hand. Die linke soll folgen. Tut sie aber meistens nicht. Und wenn sie es doch tut, malt die Rechte keine acht mehr. Eher eine zackelige 0. Aber der Reihe nach...

Ich bin zu Gast bei Line Up Danceart in Köln. Tanzen steht schon länger auf der Wunschliste für mein Projekt und in Woche 20 schaffe ich es endlich ins Tanzstudio. Ich liebe es, mich zu Musik zu bewegen, nichts motiviert mich so sehr beim Sport wie ein guter Beat mit fetten Bässen. Nur mit Choreografien und Schrittabfolgen habe ich es nicht so. Deswegen ist Voguing eine Herausforderung für mich.

Von Harlem nach Köln-Ehrenfeld

Voguing ist ein Tanzstil, der seinen Ursprung in der Homosexuellen-Szene hat. Es war der Tanz der homo- und transsexuellen Afrkoamerikaner während der 60er/70er Jahre in New York Harlem. Die Bezeichnung stammt vom Namen der Modezeitschrift Vogue - und so orientieren sich die Bewegungen an auch den Posen und Körperhaltungen von Models: Lineare, rechtwinkle Arm- und Beinbewegungen und überspitze Körperhaltungen.

Nach einer kleinen Aufwärmrunde bringt Crystal uns die Choreografie für heute bei. Wir stehen vorm Spiegel. Arme zur Seite. Hände abknicken. Arme im rechten Winkel nach oben. Zur Seite. Posen. Füße über Kreuz setzen. Gehen. Arme schwingen. Stehen bleiben. Posen. Hände über dem Kopf, entlang am Gesicht nach unten streichen - wieder in Pose schmeißen. Das mit dem Posing ist so eine Sache bei mir. Ich kann dabei nicht ernst bleiben. Jedesmal, wenn ich mich divenhaft in Stellung gebracht habe, ist es mir ein bisschen peinlich. Ich muss kichern und hüpfe verlegen rum. Zum Glück hat Crystal Geduld und zeigt mir wieder und wieder die verflixte Acht, die meine Arme einfach nicht ordentlich in die Luft malen wollen. Ich krieg es nicht hin. Muss verlegen grinsen. Dann improvisiere ich und drehe meine Hände einfach auf meine Art bis nach oben über den Kopf. "Yeah, that's the attitude", lacht Crystal. Ok. Ich glaube, ich hab's verstanden. Es geht hier gar nicht so sehr um absolute Perfektion bis ins kleinste Detail der Bewegung. Es geht darum, die Musik zu fühlen und von dem überzeugt zu sein, was man tut. Fühlt sich gut an. Und plötzlich muss ich nicht mehr verlegen kichern, sondern tanze mit den anderen mit, bin im Rhythmus, lasse die Bewegungen fließen. Voguing gibt Selbstbewusstein.

Von Subversiv bis Selbstbewusst

Um Selbstbewusstsein ging es wohl auch den Erfindern des Voguing. Homo- und transsexuelle Afroamerikaner wurden in den 60er/70er Jahren in New York gleich mehrfach von der Gesellschaft ausgeschlossen. Voguing war für sie auch ein Akt der Befreiung. Sie gründeten sogenannte Houses und organisierten Bälle, bei denen sie die Glamour-Welt imitierten, zu der ihnen der Zutritt verwehrt wurde. Sie überspitzten den Glitzer, das weibliche, das Selbstbewusste und bildeten ein Gegenmodell zur sozialen Ordnung. Unser Voguing ist sicher nicht so subversiv, wie es das vor 50 Jahren war. Aber ein paar Parallelen kann man sicher ziehen. Gerade wenn man hin und wieder an einem zu geringen Selbstbewusstsein zu knabbern hat. Nicht mehr weiß, ob man als Frau jetzt weiblich, sexy, bossy, höflich, selbstbewusst, zurückhaltend, mütterlich, weich, hart oder sonstwas zu sein hat. Ich merke, dass ich nach und nach in eine neue Rolle schlüpfe. Meine Rolle. Ich werde selbstsicherer. Pose bewusst und fühle mich wohl in meiner Haut. Paar Kilo zu viel? Pickel auf der Nase? Harems-Hose angezogen? Wen interssiert das hier? Niemanden!

 

Die anderen Tänzerinnen im Kurs helfen mir unbewusst dabei, mich gut zu fühlen. Ich bin umgeben von ziemlich tollen Frauen, die alle sehr unterschiedlich, aber auf ihre Weise alle sehr schön und sexy sind. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie so auftreten. Egal, ob sie Hotpants tragen, eine Trainingshose oder ein geknotetes Hemd und Nerd-Brille. Sie alle strahlen aus: "Ich bin die coolste hier und ich bin völlig im Reinen mit mir". Jeder von ihnen kaufe ich das auch ab.

Voguing macht dich stärker

So langsam sitzt auch die Choreografie und Crystal Melody findet, dass wir bereit fürs Battle sind - eins der Hauptbestandteile des Voguing. Vier gegen vier stellen wir uns auf. Werfen uns in Posen und schreiten dann erhobenen Hauptes aufeinander zu. In der Mitte stoppen wir, nehmen unsere "Herausforderin" ins Visier und starten auf Crsytals Kommando hin die Choreo. "Bäm!" "Yeah!" "Whoohooo!" feuert uns unsere Trainerin an. Wir schwingen die Arme, werfen uns ins Hohlkreuz, legen so viel Feuer wie möglich in unsere Blicke. Der ganze Raum ist voll Energie und wummerden

Bässen. Immer wieder battlen wir uns. Bis Crystal entscheidet: Jetzt geht es ins One-To-One. Und ich muss als erste ran.

 

Neiiiiiin.

 

Direkt bin ich wieder verlegen, reiße mich aber sofort zusammen. Her mit meinem neuen Selbstbewusstsein. Ich stolziere auf die Mitte zu und fixiere meine Partnerin/Gegnerin. Sie verzieht keine Mine, mustert mich von oben bis unten und wirft dann den Kopf in den Nacken. "3 - 4 - 5 - 6" - auf Crystals Kommando hin beginnen wir unseren Kampf im Rhythmus der Musik. Schritt vergessen? Egal! Knoten in den Händen? Was soll's! Eine bisher unbekannte Energie macht sich in mir breit und ich tanze die Choreo ohne zu kichern. Also fast. Einmal muss ich dann doch lachen, als meine Arme so gar nicht das tun, was ich von ihnen wollte. Egal. Ich stolziere zurück zu meiner Crew, die Mädels klatschen und johlen, Crystal ruft "Oh my god" und gibt mir ein High Five. Ich bin happy. Eine Stunde lang bin ich aus mir heraus gegangen, habe mich wohl in meinem Körper gefühlt. Und jetzt, eine Woche später, kann ich sagen: Es ist tatsächlich ein bisschen was von diesem Selbstbewusstsein nachhaltig übrig geblieben.